2002
Bei Südwind müssten wir kreuzen, um aus der Steganlage zu kommen, aber ohne Wind keine Kreuz. Wir setzen zwar Groß und Fock, lassen uns aber von unserem Minn Kota aufs freie Wasser schieben. Dann haucht uns der Südwind so leise an den Stegen vorbei, dass nicht einmal die Logge Fahrt anzeigen kann, vermutlich dreht sich nicht einmal der Propeller. „Frühling lässt sein blaues Band...“, die Seevögel balzen um die Wette und in der Ferne entdecken Schulkinder mit ihren Tretbooten Amerika.
Wir lassen uns treiben, die Seele baumeln, die Welt ist fern und der Mastabsturz ist beinahe vergessen. Wie erholsam können schon ein paar Stunden Urlaub sein. Nach der „Wende“ passieren wir wieder unseren Steg und erschließen das Ufer westlich vom Segelclub Mardorf. Wir lassen den Kran hinter uns und dann wird unser Schneckentempo von mehreren multikulturellen Tretbootbesatzungen entdeckt, die sich die Reise nach Amerika wohl doch etwas anders vorgestellt haben. Die blasen jetzt zum „Angriff“, während wir versuchen das Letzte aus „flexibel“ heraus zu holen. Doch die im Americas Cup so erfolgreiche „Alinghi“ ist weit weg und das Beschwören eines großen Vorbildes macht uns leider keinen Faden schneller. Ich öffne das Groß noch mehr, überprüfe den Holepunkt der Fock, doch die Logge zeigt gnadenlos Null Knoten. Dieses Rennen können wir nicht gewinnen, denn die Djschungs kriegen in der Jugendherberge gutes Essen, haben Coladosen, Eis und andere legale Dopingmittel dabei, während wir uns in dieser Woche das Essen von der Stadtküche vor die Haustür stellen lassen. Gegen uns sind das Giganten.
Übrigens, Giganten ...
gab es hier schon viel früher - und was für welche. Vor ca. 130 Millionen Jahren, zu Beginn der Kreidezeit, war das nördliche Niedersachsen von einem riesigen Binnensee bedeckt, an dessen Küste Flüsse mündeten. Klima und starke Strömungen veränderten ständig die Uferlandschaft der flachen Gewässer und in diesem feuchtwarmen Klima lebten wirklich Giganten, Dinosaurier. Sie hinterließen ihre Spuren im Sand des flachen Wassers.
Als sich der Wasserspiegel senkte wurden die Spuren im Sand zu Sandstein und genau 130 Millionen Jahre später kommt die Freiwillige Feuerwehr Münchehagen den Dinos auf die Spur. Die regelmäßigen und mit Schlamm gefüllten Vertiefungen wurden auf der Sohle des Sandsteinbruches bei einer Feuerwehrübung frei gespült und zweifelsfrei als Spuren der Dinosaurier identifiziert. Seitdem hat Münchehagen seinen Jurassic-Park und ein Abstecher zu den 15 km entfernten Dinos lohnt sich ganz bestimmt.
Das Rattern der Tretboote kommt unaufhaltsam näher und wird sich in das Gehirn des Skippers einbrennen, wie einst das pock, pock, pock von Captain Ahabs Holzbein in Hermann Melvilles „Moby Dick“. Gleich werden die unser blank geputztes Boot entern und da wir mit sportlichen Mitteln keine Chance haben, können wir das „Rennen der Giganten“ nur noch mit pädagogischen Mitteln einigermaßen offen gestalten. „Du, was kosten diese Boot? Wo fährst du diese Schiff hin? Warum bist du so langsam? Dürfen wir auf deine Schiff“, fragen 10 –12 jährige Schüler und sofort geht mir PISA durch den Kopf, die Reform des Schulwesens und die Notwendigkeit sprachlicher Förderprogramme im Elementar-bereich.
Mit Geduld, klarer Stimme und der Haltung eines Skippers der Kap Hoorn jeden Tag auf’s Neue umrunden könnte, beantworte ich alle Fragen. Die Djschungs hören zu, entern nicht unser Boot und das unseren Kurs kreuzende Tretboot macht so cool den Weg frei, wie eine sich unverhofft öffnende Eisbarriere im Südpolarmeer. Alle Boote bleiben auf Distanz und der frisch polierte Rumpf bekommt keinen Kratzer. Doch noch gewonnen? Als wir auf dem Rückweg die „Rennstrecke“ erneut passieren, erzählen die Coladosen und Tüten auf dem Wasser, dass der Wind immer noch nicht aufgefrischt hat. Jetzt sind sie wohl doch auf dem Weg nach Amerika.
„Das ist ja ein schönes Boot“, höre ich natürlich gern und ein paar Minuten später wird „flexibel“ vom Trailer gehoben und landet im nassen Element. Wir sind wieder da! Während Sabine Auto und Trailer zum Clubhaus fährt, schiebt uns die mit Sonnenenergie geladene Batterie an den Stegkopf unseres Clubs. Auf dem Weg dahin zählt Sabine derweil die Boote am Steg und so oft sie auch zählt, es sind nur fünf. „Mehr liegen noch nicht draußen...?“, höre ich Sabine halb spöttisch, aber auch mit klammheimlicher Freude in meine Richtung. Soll wohl zweierlei heißen, „Ralf, du bist verrückt, so einen Druck mit dem Boot zu machen, …aber Gott sei Dank müssen wir uns darum nicht mehr kümmern!“
Letzte Saison lagen wir an der Westseite und in diesem Jahr ist unsere „Box“ an der Ostseite des Steges. In manchen Clubs am Steinhuder Meer nennt man die Ostseite auch die Vorstandsseite, weil man bei den hier vorherrschenden Westwinden direkt vom Achterpfahl lossegeln oder leichter festmachen kann. Durchaus ein Vorteil, doch im Segelclub Mardorf gibt es diese Vorstandsprivilegien zum Glück nicht. In die Box 35 Ost parken wir „flexibel“ endgültig für die neue Saison ein. Bis Ende Oktober haben wir Segelzeit.
Jetzt beginnen die Vorbereitungen zum Aufriggen, wir wollen den Mast stellen. Alle Bändsel am Mast werden gelöst, die Stage und Wanten positioniert, die neue Windex wird montiert und der Mast mit dem Bolzen am Mastfuß befestigt. Dabei rutscht eine Unterlegscheibe zwischen Mast und Mastfuß immer wieder ab, bleibt aber zum Glück im „Koker“ hängen, also nächster Versuch. „Die kann ja leicht über Bord rollen“, sage ich gerade zu Sabine, als sich die Unterlegscheibe auf genau diesen Weg macht und mit einem leisen „Plopp“ den Newtonschen Gesetzen in die Tiefe folgt. Weck isse!
„Ohne Unterlegscheibe kannst du den Mast nicht aufstellen“, höre ich Sabines Schuld-zuweisung, so als hätte ich das mit Absicht getan. „Hast ja recht“, grummele ich genervt, doch nicht nur das, Sabine weist mit ihrer rettenden Idee auch gleich die Richtung, „FSA hat doch bis 18.00 Uhr auf – auch am Sonntag“. Tatsächlich, der Segelladen in Mardorf hat nicht nur geöffnet, sondern auch noch Unterlegscheiben zu verkaufen; zwei simple Plastik-scheiben für 2 €! Diesmal wird die Scheibe an einem Klebestreifen fixiert und erst dann der Bolzen durchgesteckt. Nach fünf zermürbenden feinmotorischen Minuten klappt das auch und nun kann der Mast e n d l i c h aufgestellt werden. „Du bist ja total genervt, Dir geht mal wieder alles viel zu langsam oder liegt es daran, dass ich die rettende Idee hatte“, analysiert Sabine zielsicher meine Ungeduld.
Sabine steht im Cockpit und sichert den Mast, der noch auf der Transportstütze liegt, während ich auf dem Vorschiff bin. Ob der Mast auch über das Vorstag aufzustellen ist, frage ich mich und hänge mich ohne Ankündigung probeweise mit meinem ganzen Gewicht an’s lose Vorstag. Sofort hebt sich der Mast von der Stütze. Sabine wird überrascht, egal es geht doch aufwärts, aber langsam schneidet sich der dünne Draht immer mehr in meine Hand und mit jedem Zentimeter Höhe wird der Mast immer schwerer. Irgendwann ist Schluss, ich krieg’ das Ding nicht höher und für’s vorsichtige Absenken reicht einfach nicht die Kraft. Ich kann den Mast nicht mehr halten. „Pass auf, der Mast“, rufe ich und dann kracht es auch schon. Aus 2 m Höhe schlägt der Mast knapp an Sabine vorbei auf das Heck. Wumm!!! Zum Glück ist Sabine nichts passiert und weder Mast noch Heckkorb sind verbogen oder zeigen irgendwelche Spuren. Da haben wir wohl beide tierisch Schwein gehabt. Uns zittern die Knie, so ist uns der Schreck in die Glieder gefahren und der lässt uns so schnell nicht mehr los. Ein paar Minuten lang geht nichts mehr, der Bordsegen hängt richtig schief.
Hier hat der Seemann fahrlässig seine Grenze überschritten und Sabine in große Gefahr gebracht. Wenn ich mein Vorhaben nicht ankündige, kann nicht erwarten, dass ein Manöver oder das Mastaufstellen gelingt. Klare Absprachen sind das A + O und gute Kommunikation ist eine wirklich schwierige Nummer. Da muss ich noch viel lernen und nach so viel Selbst-kritik traut sich Sabine wieder mit mir an den Mast. Wenn nicht jetzt, wann denn?
Mit der „Bedienungsanleitung“ in der Hand starten wir den zweiten Versuch, und zwar so, „wie Herr Schmude es erklärt hat“. Darauf besteht Sabine und gibt jetzt den Ton an. Diesmal bleibe ich hinter dem Mast und mit einem Kraftakt drücken wir den Mast Hand über Hand in die Senkrechte. Sofort schäkelt Sabine das Vorstag ein und schon kann nichts mehr schief gehen, der Mast steht. Geschafft – doch erst jetzt sehen wir, dass sich die Steuerbordsaling beim Absturz verbogen hat und das kann natürlich nicht so bleiben! Also den Mast wieder runter, die Saling einigermaßen hin gebogen und den Mast wieder rauf gewuppt. Diesmal geht es schon besser und gar nicht so schwer. So bearbeiten wir unser Trauma und der Bordsegen nimmt wieder Kurs auf die Waagerechte. „Wir“ haben mal wieder reichlich Lehrgeld gezahlt, aber dieser Preis wäre beinahe zu hoch gewesen – und außerdem völlig überflüssig, Seemann!
Die Spannschrauben der Wanten lassen sich auf der Backbordseite leicht einsetzen und sichern. An Steuerbord bewegen sich die Sicherungsschrauben keinen Millimeter. In der Werkzeugkiste fehlt der passende Dorn und der Schraubenzieher ist bereits verbogen. So kommen wir nicht weiter. Inzwischen ist es schon spät und sehr kalt geworden, sodass wir die Arbeit abbrechen. Nächste Woche haben wir Urlaub, dann gibt’s die nächste Chance.
Wenige Tage später ist Ostern und ich habe Zeit nicht nur die kleinen Macken auszubessern, sondern die außen sichtbaren Holzteile zu schleifen und ihnen mit Bootslack wieder den alten Glanz zu geben. „flexibel“ wird von Tag zu Tag schöner. Ich erarbeite mir buchstäblich jeden Zentimeter, lerne jeden Winkel kennen und entdecke immer noch kleine Mängel. Also werden die Relingstützen neu abgedichtet, der Mast gereinigt sowie Deck und Rumpf komplett poliert. Auch die Halterung für die Selbststeueranlage muss erneuert werden, aber damit beauftrage ich eine Tischlerei. Durch das intensive Reinigen der Polster ist endlich auch der offenbar typische Geruch aus dem Schiff verschwunden, „flexibel“ ist wieder blitzsauber