2002
Dann sind wir draußen. „Wohin soll’s denn gehen?“, fragen wir. „Na zum Wilhemstein“, sagt die eine, „nein, nach Steinhude“, die andere Mutter. Die in Konfliktmoderation ausgebildete Schiffsleitung verkündet zweistimmig, „…nach Steinhude, letztes Jahr waren wir auf dem Wilhemstein, dieses Jahr gibt es ein neues Ziel“. Mit dieser Entscheidung sind alle einverstanden, aber vor der Sahnetorte wird erst einmal gesegelt ... und gefroren. Hannelore hat sich wie für eine Bustour mit ihrem Heimatverein verkleidet und braucht meine dicke Fleecejacke. Dann passieren wir den Wilhemstein und auf Vorwindurs fühlt es sich endlich wärmer an.
Weil beide Mütter immer wieder gern bei Günther Jauch „Wer wird Millionär?“ gucken, haben wir für sie eine ganz besondere Rätselaufgabe vorbereitet: „Was glaubt ihr, wohin segeln Sabine und Ralf am 9. August?“ „Komische Frage“, spötteln beide, doch dann tasten sie sich langsam ran, „... in die Nordsee? Ostsee?“ „Nein, ganz falsch“. „Na dann bleibt ja nur noch das Mittelmeer…“? „Kalt, ganz kalt“, antworten wir, „…wir meinen das auch nicht geographisch sondern eher im übertragenen Sinne...“
Darauf hin breitet sich noch mehr Ratlosigkeit aus, etwa so wie sich die Wasserpflanzen, die wir gerade passieren, auch immer mehr ausbreiten. Dann der entscheidende Tipp: „Wohin könnten wir denn nach 20 Jahren Beziehung noch segeln?“ Und dann ist es endlich raus, „...na klar, in den Hafen der Ehe!!!“ „Was für eine Überraschung“, freuen sich beide Mütter.
Wir halten auf Steinhude zu. Am Gastliegersteg liegen vier oder fünf Boote und wir müssen für den Aufschießer vom Vorwindkurs in den Wind gehen – fast 180 Grad und dann “schräg zum Steg“ in die Parklücke. Dabei kommt erstmals der neue Kugelfender zum Einsatz. Dann sind wir fest. Neben uns liegt die rote Neptun 22 „unserer“ Segelschule und die beiden Seglerschüler wollen gerade ablegen. Wir bestellen schöne Grüße an Lena, Hans und Dirk und dann dreht die back gestellte Fock die gecharterte Neptun über den falschen Bug. Die noch lernenden Jungs merken das aber gar nicht und irgendwie rutschen sie doch aus dem „Hafen“. Bei viel mehr Wind hatten wir letztes Jahr mit demselben missglückten Ablegemanöver beinahe ein anderes Boot versenkt, aber inzwischen trägt das Lehrgeld Früchte und nun spendiert die Schiffsführung der Crew den wohlverdienten Kuchen in den Strandterrassen von Steinhude.
Auf dem Wasser wird inzwischen der Fischerkreidag nachgeholt, den das Verkehrsbüro wegen der starken Regenfälle kurzerhand von Samstag auf den heutigen Sonntag verschoben hat. Immer mehr der typischen Torfkähne formieren sich zu einer Regatta.
Übrigens, Torfkähne...
gibt es auf dem Steinhuder Meer schon seit ca. 8000 Jahren, aber befahrbare Wege im Uferbereich erst in jüngster Zeit. Also erfolgte der Transport der Torfe (als Brennmaterial), von Schilf, Heu, Sand, Holz, Steinen, Vieh und sogar von Ausflüglern mit dem Torfkahn.
Für den Torfkahn nicht gibt es keine Baupläne. Der Bootsbau folgt seiner langen Tradition und der hier ansässige Zimmermann verwendet dafür bestes Eichenholz. Der Torfkahn ist das Boot der Fischer. Es wird nicht gerudert oder gepaddelt sondern gestakt, gesegelt und manchmal hilft auch der Außenbordmotor. Gesteuert wird der schwarz geteerte und ca. 10 m lange Kahn über ein Seitenruder, das sogenannte Firrer.
Das der Kahn nicht nur Steinhuder Meer tauglich ist, wurde 1982 mit drei Torfkähnen nachgewiesen. Die Boote fuhren von Nienburg die Weser abwärts ins deutsche Schifffahrts-museum nach Bremerhaven. Andere Exkursionen, z.B. nach Berlin folgten. Alljährlich segeln die Fischer am Fischerkreidag mit ihren Torfkähnen vor Steinhude ihre Regatta.
Auf dem (Lauf)Steg holen wir jetzt die im letzten Jahr vergessenen Fotos nach, denn da lag kein Film in der Kamera! Sabine mit ihrer, Ralf mit seiner Mutter, alle mit „flexibel“ und dann geht unsere Reise weiter. Beim Ablegen ist Ralf noch der Skipper, danach übernimmt Sabine die Pinne. Die segelnden Torfkähne sind wieder im Hafen und wir passieren die Ba-deinsel mit Kurs Postboje. Wieder nagt die Kälte insbesondere an Hannelore, der wir jetzt nur noch mit unserer Decke helfen können. Für die Postboje soll nun spontan eine Karte oder irgendein Zettel als Ansichtskarte gefunden werden, Sabine könnte eine Briefmarke sponsoren, aber von meinem Logbuch gebe ich keinen Schnipsel her, so geht die Post eben nicht ab!
Inzwischen steuert Sabine nach Kompass. Das braucht man auf dem Steinhuder Meer wirklich nicht, aber wir wollen für „später“ üben, später wenn mal kein Land mehr in Sicht sein wird. Von der Postboje an müssen wir kreuzen. Nun treibt der Wind wieder die Kälte durch Decke, Jacken, Pullover und Blusen. „Wann sind wir endlich zurück, wieso fährst Du nicht einfach dahin?“, deutet Selma Richtung Nordufer. „Ja warum denn nicht? Stattdessen kreuzen wir hin und her, sind manchmal fast am Wilhemstein und dann wieder an der Moorhütte“, spitze ich die Frage zu. Nein, wir zeigen Selma, dass es gegen den Wind einfach nicht geht. „Siehst du, wenn wir so wie jetzt direkt gegen den Wind steuern „flattern“ die Segel und wir machen gar keine Fahrt mehr“,“... ach so ist das“, signalisiert Selma Verständnis für Aerodynamik und Kräfteparallelogramme. „So ist das“.
Inzwischen traut sich manchmal die Sonne hervor, doch davon wird keiner Mutter mehr warm. Sabine hat ihr Vergnügen an Pinne und Kompass gefunden und ich träume ein wenig vor mich hin. Meine Gedanken treiben mich weit hinter dem Horizont einer fremden Küste zu, doch als Sabine zu unseren Müttern sagt, „... wenn wir erst einmal die Weltumsegelung machen“, bin ich hellwach. Das hat sie wirklich gesagt? Nein, das kann nicht sein, aber ich habe es doch gehört und hier steht es ja schwarz auf weiß, „... wenn wir erst einmal die Weltumsegelung machen“, na, dann liegt ja der richtige Kurs an.
Und so regnet es und ist auch kein Wind als wir bei strömendem Regen trotzdem in Hannover losfahren. „Das hat doch keinen Zweck, lass’ uns umdrehen“, überlegen wir hinter Berenbostel, „... da hinten wird es schon heller“, wünschen wir uns in Neustadt schöneres Wetter, aber Petrus schickt lieber seinen Wolkenbruch zum Nordufer. Auf den letzten Meter zum Clubhaus hätte uns eine Fähre besser ans andere Ufer auf den Parkplatz gebracht. Wenn das so weiter regnet, sollte der neue Vorstand für die nächsten Clubregatten bei FSA die „Arche Noah“ in Auftrag geben.
Dieser himmlische Gedanke wird es wohl gewesen sein, der ein wenig mehr Licht in die finsteren Minen verzweifelter Seglerinnen und Segler zaubert und Heinz Roth plötzlich unerschrocken gen Himmel zeigen lässt, „...da, da ist doch was Blaues am Himmel“. Am Fußball interessierte Menschen wissen, dass sich in diesem Moment die königsblauen Schalker in Berlin auf das Pokalfinale vorbereiten. Hat Heinz etwa schon jetzt königsblau gesehen? Und dann kommt plötzlich Wind auf und noch ein bisschen „meer“ blau. Petrus gibt auf, aber der Sportwart nicht. „Um 16.00 Uhr starten wir“, kündigt Karl Levin an! Eine „Arche Noah“ finden wir nicht auf der Startliste.
„Ja, aber wie geht das, wir sind doch noch nie eine Regatta gesegelt?“ „Also, die Startlinie ist zwischen Motorboot und Stegkopf, dann links um den Wilhemstein“, „... Hä, links um den Wilhemstein? Meinen Sie, den Wilhemstein an backbord lassen?“ „Genau, in der Regattasprache heißt das links“, höre ich den Sportwart, der danach ein Einsehen mit uns hat und auch noch die neuen Startsignale bekannt gibt. Mit Erleichterung hören wir, dass auch andere Fahrensleute nicht gerade auf dem neuesten Stand der Wettfahrtregeln sind. „Seit wann gilt denn diese Regel“, murmeln einige nachdenkliche Skipper während der Steuermannsbesprechung und sind wohl ganz froh, dass wenigstens wir nachgefragt haben.
O.K., wir haben erst letztes Jahr mit dem Segeln angefangen, haben uns gerade eben mutig in die falsche Startliste eingetragen und sind noch nie eine Regatta gesegelt. Uns beflügelt also nicht nur der olympische Gedanke sondern auch ehrenwerte soziale Motive treiben uns auf die Regattabahn. Da uns natürlich alle auf dem letzten Platz einlaufen sehen, sollen wir damit verhindern, dass die Rote Laterne z.B. unverhofft einem erfahrenen Salzbuckel zufällt. Damit wird die Club-Hierarchie nicht gestört sondern eher gefestigt und außerdem vergrößert sich bei 18 Booten die Wahrscheinlichkeit auf ein paar Liter Freibier um exakt 5,55 %.
Als die Startankündigung „noch fünf Minuten“ ertönt, besprechen wir unsere Taktik. Wir werden gleich hoch am Wind die Außenbahn übernehmen und damit alle anderen Boote abdecken. So würde das John Kostecke mit der „Illbruck“ auch machen und meine Navigatorin wird für unsere „flexibel“ den optimalen Kurs um das Azorenhoch, das sich wie jeden Samstag um den Wilhemstein festgesetzt hat, finden. Plötzlich überrascht uns das zweite Signal. Wir fragen unsere Nachbarn, „war das etwa schon der Start?“ „Ja, das war der Start!“ „Ach du Schreck!“
Die meisten anderen Boote haben bereits eine Kabellänge (185,2 m) Vorsprung als wir endlich die Startlinie passieren, aber jetzt werden wir das Feld von hinten aufrollen. Wir nutzen jede kleine Winddrehung, luven bei jeder noch so kleinen Böe an, doch der Abstand reduziert sich einfach nicht – egal was wir tun. Auch das von meiner Navigatorin unter-schätzte Azorenhoch um den Wilhemstein ist nicht auf unserer Seite, im Gegenteil, es scheint sich eher direkt über uns festgesetzt zu haben und nur mit uns zu ziehen, so als segelten wir im windstillen Auge eines Hurrikans, denn alle anderen Boote haben viel mehr Wind als wir.
Auf Amwindkurs haben wir also keine Chance und als letztes Boot halsen wir „links um den Wilhemstein“. Auf Vorwindkurs gelingt es uns, wenigstens den Abstand zu halten und nicht noch größer werden zu lassen. Vielleicht haben die anderen Boote ja noch Pech, wünsche ich mir klammheimlich, z.B. einen Ruderschaden, Mastbruch, vielleicht eine Meuterei oder besser gleich mehreren Skippern erscheint die Loreley und sie werden den Kurs nicht halten, glauben wir jedenfalls weiterhin fest an unsere Chance. Ganz fest. Als wir die letzte Tonne so scharf schneiden, dass sie eine Bielmann-Pirouette dreht und wir wieder auf Amwindkurs segeln, erscheinen uns die anderen Boote schon viel näher. Na klar, müssen wir auch noch kreuzen, doch jetzt werden wir die vor uns liegenden Gegner durch taktische Manöver beeindrucken. Wir segeln einfach dieselben Manöver wie die vor uns liegenden Boote, dann machen wir bestimmt nichts falsch. Also machen wir der vor uns liegenden Crew einfach alles nach, wenden immer zeitgleich mit ihnen und kommen tatsächlich immer stärker auf, was die aber nicht wirklich interessiert.
Als die immer noch knapp vor uns liegende Crew unser Aufkommen „endlich“ mit Entsetzen registriert, wechseln wir den Rhythmus und wenden so knapp vor ihrem Bug, dass wir das Weiße in den Augen des Skippers sehen können. Mit diesem psychologisch beein-druckenden Manöver haben die bestimmt nicht gerechnet, denn nun fällt ihr Boot immer stärker ab, der kleine Kreuzer scheint nicht mehr an den Wind zu kommen, ist völlig von der Rolle. Aber vielleicht ist das nur ein Trick oder was haben die vor? Verspricht ein Kurs unter Land etwa mehr Wind? Fallen wir auf deren Finte rein? Niemals! Meine Navigatorin sucht derweil das Ziel und meint, da hinten könnte vielleicht die Ziellinie sein – oder auch nicht, da hupt jedenfalls immer wer! Bis da hinten sind es noch 500 m. Wir steuern selbstbewusst unseren Kurs, richten unsere Strategie jetzt nach unseren Stärken und nicht mehr nach der des Gegners aus, „…luv noch mehr an!“
Dann sind wir tatsächlich durch. Wir „klatschen uns ab“ und feiern still, aber nach innen völlig losgelöst, vermutlich den vorletzten Platz. So was hat es für uns noch nie gegeben! Als wir endlich die Segel verstaut haben und zum Clubhaus kommen sind die anderen Crews schon lange da - bis auf eine. Doch für unsere taktische Meisterleistung interessiert sich niemand, die Regatta ist überhaupt kein Thema. Sind die alle so cool oder haben wir mit dem vorletzten Platz tatsächlich die Clubhierarchie durcheinander gewirbelt? Aber nein, kein verzweifelter und am Boden zerstörter Salzbuckel hat vorzeitig die Heimreise angetreten. Andererseits wird auch kein Sieger gefeiert, nicht über Proteste verhandelt, eine Stimmung, als hätte gar keine Regatta statt gefunden. Aber wer hat denn nun gewonnen? War etwa schon die Siegerehrung? Seltsam.
Klar, wir kennen die Rituale im Club noch nicht und als Neue halten wir uns mit Fragen lieber zurück, nachdem wir uns vorhin in die falsche Liste eingetragen hatten. Aber es gibt andere Indizien für den Ausgang der Regatta. Die Sitzordnung am Tisch, die bereits geleerten Gläser und die abgenagten Knochen auf den Papptellern sprechen eine deutliche Sprache. Jetzt wird mir klar, dass es hier nicht um Sport, Punkte oder die Rangliste sondern um die Befriedigung elementarer menschlicher Bedürfnisse geht. Hunger und Durst haben die Boote ins Ziel getrieben, Freibier und Bratwurst treiben die Segler an den Tisch. Stammtischdoping! Reduziert sich darauf der Segelsport? Ich fass’ es nicht.
Deshalb hatten wir keine Chance und deshalb wollte uns Hagen, ebenfalls neu im Segelclub, gleich nach dem Start versenken! Wegen einer Bratwurst?! Hätten wir bloß nicht so spät und so ausführlich gefrühstückt, wir hätten vielleicht sogar Chancen auf einen Platz auf dem Podest gehabt. Hätte, wenn und aber ... einzig der Kassenwart muntert unsere arg gebeutelten Seglerseelen wieder auf. Mit dem nächsten Freibier kriegt Walter mich sogar so weit, dass ich für die Clubzeitschrift „Wahrschau“ einen Bericht über die Regatta schreiben werde. Schließlich hätte ich durchaus das Zeug, später einmal Schriftwart im Club zu werden. Na, das können ja Protokolle werden...
Der Wind bläst jetzt immerhin mit 6 Bft. aus West und ohne Fock lässt es sich noch einigermaßen aufrecht segeln. Die Warnblinkleuchten, die ab 6 Bft. ihre Arbeit aufnehmen, sind in Betrieb und wir nähern uns bereits dem Wilhemstein, als uns die erste Regenböe erwischt. Dabei kommt der Schaum auf dem Wasser in deutlich sichtbaren langen Streifen in Windrichtung daher, demnach haben wir sogar 7 Bft. Bei guter Sicht bleibt trotzdem genügend Zeit, sich gut darauf einzustellen. Der Skipper steigt erstmals in warme und regensichere Kleidung und die Varianta kommt gut mit den Böen zurecht. Um uns selbst ein wenig vor der „gefühlten Kälte“ zu schützen, halsen wir auf Raumschotkurs und sind zu dieser Zeit, außer mit einer weiteren Yacht sowie den Surfern und Kitesurfern, die bei diesem Wetter einen richtigen Feiertag haben, allein auf dem Wasser.
Als uns später beim Passieren von Steinhude die ersten Laser (= Regattajollen) mit Kurs auf ihre Regattabahn passieren, flaut der Wind auf 4 Bft. ab und die Sonne kommt wieder hervor. In der Ferne kündigt sich zwar bereits die nächste Front an, aber für voraussichtlich eine halbe Stunde werden wir die Sonne behalten. Wir passieren die Badeinsel, besuchen die Clubanlagen ganz im Südosten und halsen schließlich vor Großenheidorn auf Nordkurs. Bei halbem Wind und gerefftem Groß „pötteln“ (O-Ton Jörg) wir so vor uns hin. Brotzeit: Mettwurststracke, Käse, Zwiebelbrot, Tee, Sonnenschein und eine kräftige Brise, Seglerherz, was willst du mehr!
Übrigens, Segelclubs...
gibt es auf dem Steinhuder Meer erst knapp hundert Jahre. 1906 erhalten Kapitänleutnant a. D. Menger und Kapitän a. D. Walter von der Fürstlichen Hofkammer die Genehmigung, mit einem eigenen Boot das Steinhuder Meer zu befahren. Am 1. April 1906 wurde der Hagen-burger Yachtclub gegründet, 1908 folgte der Segelverein Steinhude, der seinen Namen 1914 in „Fürstlich-Lippischer Segelverein Steinhude“ änderte. 1910 gründete sich der Steinhuder Yachtclub und 1921 der Segel-Club Steinhuder Meer e.V.
Die ersten Segelclubs hatten am Südufer ihr zuhause. Dies wurde u.a. durch die Steinhuder-Meer-Bahn begünstigt, mit der damals die Segler aus Hannover anreisen konnten. Auf der Mardorfer Seite begann die organisierte Segelei am Nordufer erst in den sechziger Jahren.
Die Postboje will im neuen Fernglas partout nicht auftauchen (wird erst in einer Woche ausgebracht), aber bald werden wir die Moorhütte erreichen. Wollen wir dort festmachen? So richtig entscheiden wir das nicht. Als wir die nordöstlichste Ecke des Steinhuder Meeres befahren, frischt der Wind wieder auf 7 Bft. auf. Noch haben wir gute Sicht, aber westlich von uns sehen wir bereits den Regen waagerecht übers Wasser fliegen. Inzwischen hat uns die Abdrift so weit nach Osten versetzt, dass wir die Moorhütte vergessen können und nur mit dem Groß kommen wir einfach nicht durch den Wind, aber jetzt müssen wir endlich wenden!!! Bis zum Ufer sind es vielleicht noch 300 m. Wo wird das Wasser so flach, dass wir aufsetzen? Wir sitzen in der Falle, sind auf Legerwall geraten.
Westlich von uns hat die Böe bereits eine Jolle gekentert, doch die Crew macht keine Anstalten, das Boot aufzurichten und Notsignale geben sie auch nicht. Die warten besser ab bis die Böe durch ist. Wir hätten sie ohnehin nicht erreichen können. 100 m nördlich „treiben“ zwei Surfer an uns vorbei, die sich flach auf ihre Bretter gelegt haben und auf diese Weise die Böe abwettern. Zwei, drei weitere Versuche, uns doch noch mit einer Wende aus der Falle zu befreien, schlagen fehl, im Gegenteil, jetzt bietet das dichtgeholte Groß dem Sturm soviel Angriffsfläche, dass „flexibel“ sich voll auf die Steuerbordseite legt und Jörg, der in Vorbereitung der Wende schon die Seite gewechselt hat, sitzt nun auf der „falschen Seite“. Unter Deck rumpelt einiges durcheinander. Die Böe hat inzwischen eine richtige Welle aufgebaut und das Ufer kommt immer näher. Wann setzen wir auf, noch 100 m oder 50 m? Es wird eng.
Endlich platzt der Knoten in meinem Kopf: Eine Halse!!! Dieses Manöver hatte ich unter dem „tiefDruck“ fast vergessen und die Halse befreit uns sofort aus der Klemme. Als wir „Rund achtern“ kommen und das Groß nach backbord schlägt, legt sich unser Dampfer noch einmal extrem auf die Seite, aber diesmal sind wir beide auf der Luvkante; „flexibel“ richtet sich sofort wieder auf. Das Manöver bringt uns dem Ufer zwar noch zwei, drei Bootslängen näher, doch dann segeln wir uns langsam vom Ufer frei. Wir haben das Boot wieder im Griff und wenig später geht der Böe zum Glück die Puste aus.
Als wir nach 15 Minuten wieder die Höhe der Badeinsel erreichen, setzen wir die Fock, weil wir nicht mehr „pötteln“ wollen. Sofort springt die Logge auf 9 Knoten (9 x 1852 m = 16,7km/h), so schnell bin ich mit „flexibel“ noch nie gesegelt. Wieder kommen die Regattalaser aus den Clubanlagen auf die Piste, passiert die Wasserschutzpolizei mit hoher Geschwindigkeit, überhaupt kommt richtig Leben in die Bude.
Die Sonne scheint, wir haben eine wunderbare Sicht, Zeit für Kirschkuchen, Apfelkuchen und Früchtetee. Wir kreuzen nach Hagenburg hoch, wechseln rüber zum Nordufer und machen ordentlich Speed. In der Nordwestecke kämpfen über 50 Optis, endlich bei optimalen Segelwetter um die Plätze auf dem Podium, während im Harz, 100 km südwestlich von hier, Winterbereifung empfohlen wird. Um 18.15 Uhr machen wir fest.
Mehr Abenteuer geht doch nicht – oder?
Geht doch! Am folgenden Montag lese ich in der Zeitung, dass am Samstag auf dem Steinhuder Meer 40 Boote gekentert und einige Freizeitsegler in Nöte geraten sind, als eine Böe mit Windstärke neun ein Regattafeld durcheinander gewirbelt hat. So ist das mit den gefühlten und gemessenen Windstärken. Für mich waren es nicht mehr als sieben Bft., Basta!
Wir setzen Groß und Fock, aber beide Segel sind nahezu wirkungslos. „Der Wind hat seine Arbeit eingestellt“, hören wir den gerade einlaufenden Herrn Scholz, „... und wir hatten noch Glück“. Ein anderer Segler schiebt seine Neptun mit der Stakstange zurück an den Steg, anderswo werden sogar Paddel eingesetzt. Wir überlassen uns den „Kräften“ der Natur und dümpeln zwischen Steg und Sonne. Eine gute Gelegenheit für Sabine, ungestört und in Ruhe, wieder einmal die Knoten zu üben. Nach einer Viertelstunde und ohne Hoffnung auf Wind, inzwischen von einigen Klamotten erleichtert und barfuss, treffen wir eine Kursentscheidung: Wir wollen unsere Saisoneröffnung auf dem Wilhemstein erleben und dort Eis essen. Gesagt getan, unsere von der Sonne verwöhnte Batterie treibt den Minn Kota und uns langsam auf den Wilhemstein zu und um 16.30 Uhr machen wir an der Ostseite fest.
Dieser sonnige Nachmittag motort auch schon die ersten Touris auf die Insel, aber es gibt noch kein Gedränge und wir finden unseren Platz und unser Eis an der Sonne. Nur der kassierende Inselverwalter ist nicht in Sicht. Als wir vom Cafe zum Liegeplatz gehen, folgen wir einer geführten Ausflüglergruppe und kurz vor unserer „flexibel“ steht sie überraschend vor uns: Unauffälliger grauer Rock, darüber das Sakko und daran das Schild Inselverwal-tung, Fürstliche Hofkammer! Klar, der Wilhemstein befindet sich in Privatbesitz und der Fürst braucht wirklich jeden Cent. Natürlich zahlen wir und kaufen sogar für 23 € gleich eine Dauerkarte für die ganze Saison. Wenn nicht jetzt, wann denn? Ab dem 5. Anlegen kommen wir damit kostenlos und dann hat der arme Fürst das Nachsehen. Clever!
Aber warum diese Frau, wo ist der Inselverwalter, den man schon von weitem an seiner Schiffermütze erkennen sollte? Hat er vielleicht in die eigene Tasche gewirtschaftet oder Aufkleber gefälscht. „Alles Unsinn, mein Mann hat sich einen komplizierten Trümmerbruch im Fußgelenk zugezogen“, klärt uns Frau Schumann auf, „im Herbst ist er mit dem Laubpuster in der Hand über Findlinge gestolpert, die sich unter dem Laub versteckt hatten und dabei unglücklich gestürzt. Nein, die Schiffermütze setze ich nicht auf, die sieht bei einer Frau doch schrecklich aus“. Da hat Frau Schumann recht, aber nicht nur bei Frauen, ... wir sind hier auf der Urlaubsinsel mitten im Leben angekommen.
Die Vorstellung, im Winter allein auf dieser Insel zu leben, Arzt- oder Krankenhausterminen nachkommen zu müssen oder vielleicht „nur“ zum fürstlichen Chef wird durch romantische Gefühle, die so ein Inselleben jedenfalls bei mir auslöst, nicht aufgehoben. Gute Besserung wünschen wir und mit dem Aufkleber am Mast ist ein kleiner persönlicher Kontakt zur Insel entstanden.
Übrigens, der Fürst...
von Schaumburg Lippe hat nach und nach seinen Einfluss auf die Region rund ums Steinhuder Meer abgegeben, bzw. verkaufen müssen. Nur die Insel Wilhemstein befindet sich noch in seinem Besitz. Bereits 1920 wurde das Steinhuder Meer einschließlich des Hagenburger Kanals zwischen dem Fürsten von Schaumburg Lippe und dem Freistaat Schaumburg Lippe aufgeteilt. Nach dem zweiten Weltkrieg übernahm das Land Niedersachsen, mit der Eingliederung des Landes Schaumburg Lippe, das damals für ein paar Wochen sogar zu Nordrhein-Westfalen gehörte, die Rechtsnachfolge für die eine Hälfte des Meeres.
1973 erwarb Niedersachsen auch die zweite Hälfte des Steinhuder Meeres von Philipp-Ernst Prinz zu Schaumburg-Lippe. Seitdem wird das Meer nicht mehr fürstlich sondern von den Beamten der Bezirksregierung Hannover verwaltet. Hierzu gehört, jedenfalls was die Segler betrifft, die privatrechtliche Gestattung von Steganlagen, Liegeplätzen sowie Slip- und Krananlagen.
Um 17.30 Uhr legen wir wieder ab. Vorher hat Sabine am Poller noch intensiv den „Kopfschlag“ geübt, das ist der Knoten, der uns jetzt noch mit der Insel verbindet. Wenig später schiebt uns eine leichte Brise wieder leise übers Wasser. Auf dem Meer eine traumhafte Stimmung. Die Geräusche vom Land kommen wie durch Watte bei uns an. Wir spüren jedenfalls einen Zauber in der Luft. Vielleicht sind es Frühlingsgefühle oder liegt der Zauber in der „Meeresluft“? Ist doch egal, überliefert ist jedenfalls, dass es im Leben nur ganz wenige magische Momente gibt und dies hier ist so einer. Frau und Mann schauen sich tief in die Augen, versinken darin und jetzt ist nur noch eine Frage erlaubt: „Willst Du mich heiraten?“
Als Frau und Mann diese Frage mit ja beantworten, geht dem Wind vor Freude endgültig die Puste aus. Damit wird es still auf dem Steinhuder Meer, so still, als sollten wir diesen Augenblick ganz, ganz fest halten. Ein geschäftstüchtiger Tourismuschef würde diesen Moment als „Steinhuder Luft“ in Konservendosen abfüllen und als Souvenir verkaufen. Doch der Tourismuschef interessiert uns nicht wirklich. Wir lassen uns lange treiben..., doch irgend-wann starten wir die Batterie, um überhaupt noch an den Steg zu kommen. Staken oder paddeln brauchen wir nicht, denn unser Solarpaneel füllt die Batterie immer wieder auf. Wir „segeln“ ökologisch grün! Und nun ist die Braut die Skipperin und die bringt ihren Bräutigam sachte an Land.
Eine große seglerische Herausforderung war dieser Tag natürlich nicht. Beim Festmachen treffen wir unseren Clubwirt auf dem Steg und der erzählt, dass er nun auch den Segelschein machen will. Da können wir ihm mit diesem Buch bestimmt einige gute Tipps geben, doch wir haben ganz andere „Sorgen“. Wir können uns aufgrund des feierlichen Moments nicht entscheiden, ob wir hier oder zuhause essen und kehren „unentschieden“ auf halbem Weg in der Neuen Moorhütte ein, an deren Steg wir mit dem Boot immer noch nicht fest gemacht haben. Wir sind ganz überrascht über die freundliche Bedienung, wenngleich die Küche keine besonderen Ausreißer zu bieten hat. Matjes ist überall.
Wir lassen uns treiben, die Seele baumeln, die Welt ist fern und der Mastabsturz ist beinahe vergessen. Wie erholsam können schon ein paar Stunden Urlaub sein. Nach der „Wende“ passieren wir wieder unseren Steg und erschließen das Ufer westlich vom Segelclub Mardorf. Wir lassen den Kran hinter uns und dann wird unser Schneckentempo von mehreren multikulturellen Tretbootbesatzungen entdeckt, die sich die Reise nach Amerika wohl doch etwas anders vorgestellt haben. Die blasen jetzt zum „Angriff“, während wir versuchen das Letzte aus „flexibel“ heraus zu holen. Doch die im Americas Cup so erfolgreiche „Alinghi“ ist weit weg und das Beschwören eines großen Vorbildes macht uns leider keinen Faden schneller. Ich öffne das Groß noch mehr, überprüfe den Holepunkt der Fock, doch die Logge zeigt gnadenlos Null Knoten. Dieses Rennen können wir nicht gewinnen, denn die Djschungs kriegen in der Jugendherberge gutes Essen, haben Coladosen, Eis und andere legale Dopingmittel dabei, während wir uns in dieser Woche das Essen von der Stadtküche vor die Haustür stellen lassen. Gegen uns sind das Giganten.
Übrigens, Giganten ...
gab es hier schon viel früher - und was für welche. Vor ca. 130 Millionen Jahren, zu Beginn der Kreidezeit, war das nördliche Niedersachsen von einem riesigen Binnensee bedeckt, an dessen Küste Flüsse mündeten. Klima und starke Strömungen veränderten ständig die Uferlandschaft der flachen Gewässer und in diesem feuchtwarmen Klima lebten wirklich Giganten, Dinosaurier. Sie hinterließen ihre Spuren im Sand des flachen Wassers.
Als sich der Wasserspiegel senkte wurden die Spuren im Sand zu Sandstein und genau 130 Millionen Jahre später kommt die Freiwillige Feuerwehr Münchehagen den Dinos auf die Spur. Die regelmäßigen und mit Schlamm gefüllten Vertiefungen wurden auf der Sohle des Sandsteinbruches bei einer Feuerwehrübung frei gespült und zweifelsfrei als Spuren der Dinosaurier identifiziert. Seitdem hat Münchehagen seinen Jurassic-Park und ein Abstecher zu den 15 km entfernten Dinos lohnt sich ganz bestimmt.
Das Rattern der Tretboote kommt unaufhaltsam näher und wird sich in das Gehirn des Skippers einbrennen, wie einst das pock, pock, pock von Captain Ahabs Holzbein in Hermann Melvilles „Moby Dick“. Gleich werden die unser blank geputztes Boot entern und da wir mit sportlichen Mitteln keine Chance haben, können wir das „Rennen der Giganten“ nur noch mit pädagogischen Mitteln einigermaßen offen gestalten. „Du, was kosten diese Boot? Wo fährst du diese Schiff hin? Warum bist du so langsam? Dürfen wir auf deine Schiff“, fragen 10 –12 jährige Schüler und sofort geht mir PISA durch den Kopf, die Reform des Schulwesens und die Notwendigkeit sprachlicher Förderprogramme im Elementar-bereich.
Mit Geduld, klarer Stimme und der Haltung eines Skippers der Kap Hoorn jeden Tag auf’s Neue umrunden könnte, beantworte ich alle Fragen. Die Djschungs hören zu, entern nicht unser Boot und das unseren Kurs kreuzende Tretboot macht so cool den Weg frei, wie eine sich unverhofft öffnende Eisbarriere im Südpolarmeer. Alle Boote bleiben auf Distanz und der frisch polierte Rumpf bekommt keinen Kratzer. Doch noch gewonnen? Als wir auf dem Rückweg die „Rennstrecke“ erneut passieren, erzählen die Coladosen und Tüten auf dem Wasser, dass der Wind immer noch nicht aufgefrischt hat. Jetzt sind sie wohl doch auf dem Weg nach Amerika.